14. November 2000

TIBET INFORMATION NETWORK

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"Shol" Dawa: Nachruf auf einen politischen Aktivisten

Der 64-jährige "Shol" Dawa, einer der bekanntesten und geachtetsten politischen Aktivisten Tibets, starb während er seine dritte Freiheitsstrafe in Drapchi, dem Gefängnis No. 1 der Autonomen Region Tibet (TAR) ableistete. Die Umstände seines Todes am 19. November sind nicht bekannt, obwohl er an einem Nierenleiden gelitten haben soll. Er befand sich in schlechter gesundheitlicher Verfassung und war in den letzten Jahren mehrere Male mißhandelt und geschlagen worden. Ein schon älterer ehemaliger politischer Gefangener aus Lhasa, der sich nun im Exil befindet, äußerte sich so: "Obwohl er viele Kinder hatte, arbeitete er dennoch weiterhin für unsere Sache, und dies, obwohl er dreimal im Gefängnis saß. Letztendlich gab er sein Leben für die gemeinsame Sache der Tibeter hin. Shol Dawa zeigte niemals Bedauern oder Reue und selbst, als er im Gefängnis war, änderte er seine politischen Überzeugungen nicht".

"Shol" Dawa, ein Lhasaer Schneider, dessen Spitzname auf das ehemalige Dorf Shol am Fuße des Potala zurückzuführen ist, leistete eine 9-jährige Gefängnisstrafe ab, weil er versucht hatte, eine Liste von Namen politischer Gefangener zusammenzustellen, die er aus Tibet schmuggeln wollte - ein Vergehen, das von den Chinesen als "Spionage" geahndet wird. Dies war seine dritte und längste Gefängnisstrafe, die im August 2004 zu Ende gegangen wäre (ein Photo von Shol Dawa ist auf der website von TIN unter www.tibetinfo.net/news-updates/nu141200-pic.htm zu sehen.

Dawa war einer der ersten Tibeter, die verhaftet wurden, als in den frühen Achtzigern nach den Exzessen der Kulturrevolution die Periode der "Liberalisierung" begann. Er wurde erstmals 1981 ins Gefängnis geworfen und zu 2 Jahren verurteilt, weil er 260 Kopien einer Druckschrift über tibetische Geschichte mit dem Titel "20 Jahre einer tragischen Erfahrung" herstellte, die der bekannte systemkritische Gelehrte Geshe Lobsang Wangchuk, der 1987 im Gefängnis starb, auf seine Bitte geschrieben hatte. Das Dokument über das offizielle Gerichtsurteil von 1982 besagt, daß er "auch ein Bild einer tibetischen Nationalflagge oben auf das Zirkular gedruckt hatte". 1985 wurde Dawa wieder festgenommen und später zu 4 Jahren verurteilt, weil er "eigenhändig 10 Exemplare eines Rundbriefes geschrieben hatte, in dem er die 'sich verschlechternden Lebensbedingungen der Tibeter' in Tibet anprangerte", wie aus einer in die Hände der tibetischen Regierung-im-Exil gelangten Kopie des Gerichtsurteils hervorgeht. Seine Anschläge und Zirkulare wurden, wie man hörte, in der Gegend um den Barkor, dem traditionellen Wohnviertel der Tibeter in Lhasa, ausgestellt, sowie an einer Reihe anderer Lokalitäten, darunter auch im Lukhang (dem Park hinter dem Potala), dem Büro der Abteilung für Darstellende Künste der TAR und dem Regierungsgästehaus No. 2.

Es heißt, daß Shol Dawa bei seiner Entlassung nach der zweiten Gefängniszeit gewarnt wurde, daß er im Falle einer weiteren Verhaftung hingerichtet würde. Sechs Jahre nach seinem zweiten Hafturteil wurde er 1995 zum dritten Mal verhaftet. Shol Dawa und ein anderer Tibeter namens Topgyal wurden in Lhasa festgehalten und angeklagt, sie hätten eine Liste von tibetischen politischen Gefangenen zusammengestellt, die sie nach Indien zu senden beabsichtigten. In dem Gerichtsurteil steht, sie hätten die Liste angefertigt, indem sie zwei ehemalige Gefangene, einen früheren Kraftfahrer namens Dondrup Dorje, und einen früheren Mönch namens Ratoe Dawa, baten, die Namen aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. "Die Volksprokuratur der Stadt Lhasa klagt an, daß die Angeklagten Xue Dawa (chinesisch für Shol Dawa) und Duobuje (Topgyal) seit 1993 und 1994 solche Daten wie eine Liste von Namen derzeitiger und entlassener politischer Gefangener aus unserer Region zusammentrugen, sowie handgeschriebene reaktionäre Briefe, die sie mit einem selbst-gebastelten Ochsenkopf-Stempel geprägt hatten und die sie der Dalai Clique ins Ausland übermitteln wollten. Bei der Gerichtsverhandlung kam heraus, daß der Angeklagte Xue Dawa zwischen 1993 und 1994 Dunzhu Duoji (Dondrup Dorje) und Reduo Dawa (Ratoe Dawa) veranlaßte, eine Liste von Namen derzeitiger und entlassener politischer Gefangener unserer Region zusammenzustellen, welche sie daraufhin dem Angeklagten Xue Dawa übergaben" (Strafurteil des Mittleren Volksgerichts, Lhasa, TAR, 1996). Das offizielle Verurteilungs-Dokument lautet, daß Shol Dawa auch beschuldigt wurde, mit dem 'Tibetischen Frauenverband der Dalai Clique' in Verbindung zu stehen, womit wohl die Tibetan Women's Association gemeint ist, eine Gruppierung, die mit der Tibetischen Regierung-im-Exil in Verbindung steht und die Untersuchungen und Kampagnen durchführt. Shol Dawa und Topgyal wurde vorgeworfen, sie hätten "aktiv eine speziell von Feinden im Ausland ausgeheckte Mission angenommen, sie hätten aktiv verschiedenerlei Spionagematerial über unser Land innerhalb seiner Grenzen gesammelt und seien kriminellen, die Staatssicherheit gefährdenden Tätigkeiten nachgegangen."

Shol Dawas politische Ansichten scheinen sich in der Zeit herausgebildet zu haben, als er, damals noch ein junger Mann, während der Periode der Aufstände im März 1959 in Lhasa wohnte, also der Zeit, in welcher der Dalai Lama nach Indien floh. Ein Freund Dawas, ebenfalls ein ehemaliger politischer Gefangener, der nun im Exil lebt, erzählte TIN: "Er dachte viel über die Situation Ende der fünfziger Jahre nach, und während der Kulturrevolution nahm seine Abneigung gegen die Chinesen zu." Ende der Siebziger während der Kulturrevolution wurde er als ein "schwarzer Hut" klassifiziert, ein Ausdruck der Kommunisten für jemand, der sich das Mißfallen der Partei zugezogen hat. Eben dieser Freund Dawas, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagte, Dawas Entschlossenheit und Patriotismus seien anderen Tibetern eine Inspiration gewesen. "Zu Beginn der achtziger Jahre kam ein Tibeter aus einem Dorf außerhalb Lhasas in die Schneiderei von Pa Dawa-la (ehrerbietig: "Vater Dawa"), wo er ein Bild Seiner Heiligkeit des Dalai Lama an der Wand sah. Das bewegte ihn so sehr, daß er zu weinen begann. Daraufhin gab ihm Pa Dawa-la ein Exemplar eines Dokumentes und sagte: 'Seine Heiligkeit wohnt in Indien, er ist wohlauf und arbeitet für das tibetische Volk'". Dieser ehemalige politische Gefangene berichtete auch, wie Shol Dawa einmal politische Flugblätter um Lhasa herum verteilte. Er warf sogar einen Zettel durch das Fenster eines Polizeiautos, das er für leer hielt. Dann bemerkte er aber das Gesicht eines Polizisten im Fenster. Dieser hatte auf dem Rücksitz ausgestreckt geschlafen. Wenige Tage später wurde Dawa zum zweiten Mal festgenommen".

Ehemalige politische Gefangene, die um seine häufigen Besuche in den Gefängnissen wußten, wenn er nicht selbst einsaß, erinnern sich voller Zuneigung an Shol Dawa. Dabei brachte er Essenspakete in die Gefängnisse. In den Achtzigern begann er damit, politischen Gefangenen Eßwaren wie Schweinefleischbüchsen, Butter, Zucker und tsampa zu bringen. Ein junger ehemaliger politischer Gefangener, der nun im Exil lebt, wußte zu berichten: "Manche Gefangene kannten nicht einmal die Person, die ihnen die Speisen brachte. Leute wie Dawa setzten sich zu uns, redeten ein paar Worte mit uns, gaben uns Milchpulver, Butter, Nudeln usw. Aus diesen Besuchen gewannen wir den Eindruck, daß unsere politischen Aktionen und unser Aufbegehren der breiten Gesellschaft etwas bedeuteten; es waren nicht bloß individuelle Meinungsäußerungen, von denen keiner Notiz nahm."

Shol Dawas Familie stand wegen seiner politischen Aktivitäten unter ständiger Überwachung. Sein Sohn Samdrub, der vor zwei Jahren in Tibet starb, wurde mehrere Male vorübergehend festgesetzt und geschlagen. Ein anderer seiner Söhne verlor seinen Job, seine Tochter wurde auf seine zweite Verhaftung hin von der Schule gewiesen, und die Sicherheitspolizei durchsuchte die Wohnung seiner Familie mehrere Male. Dawas Frau Lhagpa Dolma starb 1987 während der zweiten Gefangenschaft ihres Mannes.

Es heißt, daß Shol Dawa bei sehr schlechter Gesundheit war, als er nach der zweiten Haftperiode entlassen wurde. Er war sehr abgemagert und litt unter Kopfschmerzen und Übelkeit. Er hätte nur noch tsampa (geröstetes Gerstenmehl) zu sich nehmen können und jede andere Speise erbrochen. Nach seiner dritten Verhaftung 1995 wurde Shol Dawa in Drapchi mehrere Male zu besonders heftigen Schlägen herausgegriffen, was wohl das Ergebnis seines fortgesetzten Mangels politischer Kompromißbereitschaft war. Die Chinesen behalten sich die brutalste Behandlung für jene Gefangenen vor, die sich nicht "reformieren" lassen, und Erzählungen von Dawas Freunden deuten an, daß er niemals von seiner politischen Einstellung abrückte. Ein junger ehemaliger politischer Gefangener aus Lhasa, der zusammen mit Shol Dawa in Drapchi war und nun im Exil lebt, erzählte, auf die Unabhängigkeitsproteste vom 1. und 4. Mai 1998 in dem Drapchi Gefängnis hin hätte Shol Dawa wohl weitere Mißhandlungen erleiden müssen: Zuerst kam die bewaffnete Volkspolizei (PAP) mit ihren Anti-Krawall-Schutzschildern und Gewehren. Dann pickten sie sich einige Gefangene heraus, um sie besonders zu strafen. Einige ältere Gefangene waren auch darunter, aber Shol Dawa wurde diesmal nicht hinausgebracht. Später kamen jedoch 6 Polizisten in jede Zelle, um sich die Häftlinge einzeln vorzuknöpfen. Dabei wurde jeder geschlagen, und somit erlitt auch er eine Menge Schläge". Derselbe Ex-Gefangene, ein ehemaliger Mönch in den Zwanzigern, fügte hinzu, daß Shol Dawa wegen seines Gesundheitszustandes und Nierenleidens von der Gefängnisarbeit befreit gewesen sei. "Ältere Gefangene müssen oft in Drapchi den Boden fegen, aber weil er sich nicht richtig bücken konnte, war er dazu unfähig". Inoffziellen Berichten zufolge kam die ihm von der Obrigkeit angebotene medizinische Behandlung entweder zu spät oder war ungenügend. "Im allgemeinen redete Shol Dawa nicht viel mit anderen Gefangenen. Normalerweise blieb er in seiner Zelle, wo er seine Gebete sagte und seiner Religion nachging. Aber vor den Vorfällen vom Mai 1998 luden wir ihn einmal zum Tee in unsere Zelle ein, und damals erzählte er uns viel über das, war in der Zeit um 1959 geschehen war."

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